HHM e-kontakt 7 / Februar 2019
Interview mit Dr. Chris Luebkeman
Die Daseinsberechtigung sichern
HHM traf Dr. Chris Luebkeman, Arup Fellow and Director for Global Foresight, Research and Innovation bei Arup in San Francisco, am World Web Forum zum Interview. Als Direktor bei einem weltweit führenden Ingenieurbüro mit über 14'000 Mitarbeitenden fördert er höchste technische Standards in Bezug auf Design und Fähigkeiten. Er gestaltet mit seinen Teams in fast 40 Ländern die nachhaltige Planerzukunft. Denn wer nicht selbst Geschichte schreibt, wird Geschichte.
Der Zukunftsbegriff ist omnipräsent. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass Zukunft regelmässig überverkauft oder unterschätzt wird. Wie beurteilen Sie das?
Chris Luebkeman: Vieles wird tatsächlich überverkauft, das ist im Geschäftsleben normal. Unternehmen wollen ihre Gadgets verkaufen und unter die Leute bringen. Aber auch im sozialen Kontext passiert das. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Modernismus neben der Formensprache vor allem auch ein besseres Leben, mehr Effizienz oder Qualität für jedes Individuum in Aussicht gestellt. Wir lernten mit der Zeit, dass sich der Kontext von «besser» verändert. Spreche ich davon, dass die Zukunft überverkauft oder unterschätzt ist, dann steht das immer in einem bestimmten Kontext.
Und hier wird die Sache anspruchsvoll.
Die Beschreibung der Zukunft und das Morgen, in das wir wirklich gehen, sind sehr oft unterschiedliche Dinge. Sehr oft können wir uns den Zusammenhang mit dem Morgen nicht vorstellen. Menschen haben Schwierigkeiten, sich Veränderungen, die tatsächlich und unweigerlich auf uns zukommen, vorzustellen. Wir müssen aber dieses Verständnis oder Gespür entwickeln.
Genau das scheint in der eher konservativen Baubranche anspruchsvoll. Es ist herausfordernd, vom Modus des «Getriebenen» wegzukommen und Zukunft zu denken.
Ja. Ich habe Verständnis für meine Kolleginnen und Kollegen, die täglich viel leisten und mit Problemen konfrontiert sind, die real und nicht selten von immenser Tragweite sind. Es sind Herausforderungen, die gelöst werden müssen. Das Heute ist deshalb ebenso wichtig wie die Zukunft. Ich spreche in diesem Zusammenhang von now, new, next. Es bringt nichts, dauerhaft mit träumendem Blick himmelwärts (was kommt Neues, was ist das nächste grosse Ding) zu schauen, und ebenso wenig sinnvoll ist der isolierte Blick Richtung Boden ins Jetzt. Jeder von uns kann und muss die Geschichte von morgen mitschreiben. Dazu gibt es keine Alternative.
Und diese Geschichte orientiert sich an langfristigen Zielen?
Wir haben die Verpflichtung, die Geschichte einer nachhaltigen Welt zu schreiben, die sich am Denken über sieben Generationen orientiert. Die kommenden Generationen sollen später dieselben Chancen wie wir haben. Nur konsumieren wir aktuell vom Mutter-Natur-Bankkonto und zahlen kaum darauf ein. Was können wir als Branche tun, um eine Geschichte zu schreiben, die auf ein positives Ergebnis in 200 Jahren abzielt? Dazu brauchen wir eine Idee des gemeinsamen Vektors, dem wir folgen. Das betrifft den Zivilbürger wie seine Gemeinde, sein Land oder eben die Branche. Und wir kommen nicht umher, von einem Element-Denken zu einem systemischen Verständnis zu gelangen.
Sie sagten einmal, Sie hätten beim berühmten Schweizer Ingenieur Christian Menn gelernt, sich vom Kalkulator zum Designer zu entwickeln. Brauchen wir mehr Design statt Engineering?
Lassen Sie mich etwas ausholen. Mein Grossvater war ein Erfinder. Von ihm habe ich gelernt, dass alles verbessert werden kann. Als Designer wissen wir, dass wir etwas immer noch besser machen könnten, aber das Grossartige darf dem Guten nicht im Weg stehen. Mein Architektur-Mentor David Niland vermittelte mir zudem, dass es unsere Aufgabe ist, genau hinzuhören. Mit Hirn und Herz sollen wir uns die wirklichen Wünsche der Auftraggeber erschliessen, die über das Offensichtliche hinausgehen. Bei meinem ersten Meeting hatte mir Santiago Calatrava gesagt, ich solle die Kraft im Pfeiler fühlen. Ich, der perfekt darauf trainiert war, genau das zu berechnen. Er aber konnte sich die Kräfte buchstäblich ausmalen. Wie man diese Fähigkeit nutzt und bewusst mit diesen Möglichkeiten spielt, um neue Lösungen zu schaffen, das habe ich bei Christian Menn erlebt.
Das Spiel mit dem Nichtkalkulierbaren, die Balance aus hoher Geschwindigkeit und Qualität. Das mutet Ingenieuren in ihren oftmals riesigen Projektorganisationen illusorisch an.
Fragen Sie Spezialisten, dann will jeder von Projektbeginn an mit am Tisch sitzen. Macht man das, dann hat man einen Tisch mit 120 Leuten und erreicht nichts. Blicke ich dagegen auf neue technologische Tools und Optionen, dann kann man nicht selten mit dem, was man hat, mehr machen oder erreichen. Mit robusten Datensätzen und Prozessen zum Beispiel können Aspekte wie Nachhaltigkeit, Energieeffizienz in unterschiedlichen Varianten rechtzeitig und flexibel im Projekt durchgespielt werden. Als Kunde entscheidet man sich für die beste Option. Ein Teil der Lösung eines neuen Planens sind Tools und der andere wesentliche Teil sind neue Prozesse. Wer die Fragen nicht zum richtigen Zeitpunkt stellt und beantwortet, der torpediert einen robusten und vernetzten Prozess.
Und was macht das Team selbst robust?
Das Projektteam muss sich darin einig sein, was das Beste für das Projekt ist – und das schon zu Beginn. Dazu gehört auch, dass ich beispielsweise artikulieren kann, warum mir Nachhaltigkeit wichtig ist. Kann ich das nicht, dann habe ich einen Fehler gemacht. Denn damit verpasse ich die Chance, den Kunden etwas zu lehren, und ich habe versäumt, zu erläutern, warum das Projekt genau damit Mehrwert für ihn schafft. Der Kunde soll das Bessere nachfragen. Ich will ihm dabei helfen. Er soll die Notwendigkeit erkennen und auf einem ganzheitlichen Gesamtkonzept bestehen. Wir bekommen zudem viel bessere Resultate, wenn sich jeder Projektbeteiligte als Teil des Ganzen versteht.
Wir hören viel vom öffentlichen Raum oder der Wichtigkeit von Städten. Bekannte Soziologen wie Richard Sennett thematisieren dies. Die Diskussion ergänzen immer mehr Spezialisten. Unterschiedliche Berufsbilder, «Sprachen», Ansprüche und Kontexte treffen in Architektur und Engineering aufeinander. Die Komplexität steigt weiter an. Was ist zu tun?
Es kommen in der Tat viele Aspekte zusammen. Am Ende des Tages sprechen wir aber vor allem über das Vokabular von öffentlich, halböffentlich oder privat und was, wo, wie zusammenspielt; das ist keine Magie. Es geht um Dialog und es geht um ein Vokabular, das die meisten Ingenieure nicht haben. Wir haben in unseren Unternehmen Gelegenheit und eine Verpflichtung, die Mitarbeitenden auszubilden, und zwar so, dass sie fit für ihren «Zweck» bleiben. Wir müssen dazu ein Verständnis für die Arbeit und Disziplinen von anderen entwickeln, um eigene Entwicklungsschritte in die Zukunft gehen zu können. Das betrifft nicht nur Berufsbilder, sondern auch Technologietrends. Es braucht den Willen des Einzelnen, um sich die richtigen Fragen im eigenen Kontext stellen und seine Daseinsberechtigung beurteilen zu können. Um die eigene Relevanz hochzuhalten, müssen wir Zusammenhänge verstehen.
Das ist der Beste und zugegebenermassen anspruchsvolle Schutz, um nicht selbst in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen?
Ja. Denn alles, was repetierbar ist, kann in Algorithmen übersetzt werden. 80 % dessen, was wir machen, ist Repetition. Das Kalkulieren ist nicht länger eine tragfähige Profession. Wir haben jetzt die Gelegenheit, zu verstehen, wie wir Hilfsmittel und Möglichkeiten nutzen, um bessere Designer und Planer oder Projektmanager zu werden. Die Aufrechterhaltung der eigenen Relevanz ist zentrales Ziel jeder Profession! Der Dorfschmied von damals hatte dereinst zahlreiche Schlüsselfunktionen inne. Das ist Vergangenheit. Wir müssen schauen, dass wir nicht zu diesem Dorfschmied werden.
Schliessen wir unseren Austausch mit dem Blick nach vorne. Sind Sie ein Optimist?
Ja, aber es ist härter geworden, ein Optimist zu sein. Gerade der Zustand des Planeten und aktuelle politische Entwicklungen machen mich auch als Vater sehr betroffen. Und gleichzeitig kommt aus dieser Rolle der Impuls, sich für Wandel einzusetzen. Meine Tochter sagt mir: Du darfst nicht aufgeben; es ist die einzige Welt, die ich, die wir haben. Ich setze meine Hoffnung auch auf die nächste Generation. Wir müssen dieser Generation aber helfen und sie darin unterstützen, dass sie erfolgreich wird. Wir müssen ihr dazu in die Augen schauen und sagen können, dass wir alles getan haben, um ihr eine bessere Welt zu hinterlassen. Wir, die heute an wichtigen Stellhebeln sitzen, wissen als erste Generation ganz genau, welche Konsequenzen unser Tun hat. Wir können keine Entschuldigung vorschieben, das war bei unseren Eltern anders. Die Vorzeichen und Perspektiven haben sich endgültig geändert.
Interview: Christoph Wey, Leiter Kommunikation und Marketing und Opinion Leader Innovation, HHM Gruppe.